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Nazım Hikmet Gedichte: Seine 10 schönsten Werke auf Deutsch

Nazim Hikmet

Die Gedichte von Nazım Hikmet zählen zu den prägendsten und zugleich emotionalsten Werken der modernen türkischen Lyrik. Als „romantischer Kommunist” und revolutionärer Poet verbrachte Hikmet einen Großteil seines Lebens im Gefängnis oder im Exil, doch seine Verse über Liebe, Freiheit und Menschlichkeit fanden ihren Weg in die ganze Welt.

Geboren in einer wohlhabenden Familie, wurde Nazım Hikmet aufgrund seiner politischen Überzeugungen verfolgt. Nach Jahren in türkischen Gefängnissen gelang ihm 1951 die Flucht in die Sowjetunion. In der Folge entzog ihm die Türkei die Staatsbürgerschaft – ein schmerzhafter Akt für den Patrioten, der seine Heimat in seinen Versen unsterblich machte. Erst am 5. Januar 2009, fast ein halbes Jahrhundert nach seinem Tod, erhielt er durch die damalige Regierung posthum seine türkische Staatsbürgerschaft zurück.

Nazım Hikmet – Porträt des türkischen Dichters

Hinweis: Die folgenden Texte sind freie, poetische Nachdichtungen auf Deutsch, inspiriert von Nazım Hikmets Originalen. Sie zielen darauf ab, die Stimmung, die Bilder und die emotionale Haltung des Dichters für heutige Leser greifbar zu machen.

1. Der blauäugige Riese (Mavi Gözlü Dev)

Dieses Gedicht reflektiert den Konflikt zwischen revolutionärem Kampf und dem Wunsch nach häuslichem Frieden.

Es war einmal ein Riese mit blauen Augen,
der liebte eine winzige Frau.
Die Frau aber träumte von einem kleinen Haus,
von einem Garten, in dem das Geißblatt duftet.

Der Riese liebte gigantisch, wie Riesen eben lieben,
mit Händen, geschaffen für große Taten,
nicht für das Mauern eines kleinen Heims,
nicht für das Klopfen an eine stille Pforte.

Er vermochte ihren Traum nicht zu bauen.
In seinen blauen Augen standen Tränen wie Sterne.
Die kleine Frau, müde der gewaltigen Schritte,
wählte schließlich einen Zwerg, reich an Gold und Ruhe.

Sie fand ihr Geißblatt im Marmorgarten.
Und der Riese begriff – nun einsam in seiner Größe –:
Für einen liebenden Riesen gibt es kein Haus mit Geißblatt,
sondern nur den weiten Weg und die Erinnerung.

Illustration zum Gedicht Blauäugiger Riese von Nazım Hikmet

2. Der Walnussbaum (Ceviz Ağacı)

Eines seiner berühmtesten Werke, das auch als Lied unsterblich wurde. Es spielt im historischen Gülhane-Park in Istanbul.

Mein Kopf schäumt wie eine Wolke über dem Meer;
ich bin ein Walnussbaum im Gülhane-Park.

Ein alter Knoten im Hals, verwachsen und stark,
doch weder du noch die Polizei wissen: Das bin ich.

Im Gülhane-Park stehe ich, ein Walnussbaum, groß und still.
Meine Blätter, zappelnd wie Fische im Wasser, schimmern im Licht.
Sie winken dir zu, seidig und doch voller Wehmut –
reiß eines ab, o Rose, und trockne deine Tränen damit.

Mit hunderttausend Händen fassen meine Blätter nach Istanbul,
mit hunderttausend Augen bestaune ich die Stadt.
In jedem Blatt schlägt ein Herz, das lebt und bebt.

Im Gülhane-Park rausche ich mein eigenes Lied.
Weder du noch der Wachtmeister ahnen es:
Ich bin der Baum. Ich bin hier.

Walnussbaum im Gülhane-Park – Künstlerische Illustration

3. Grüße an die Arbeiterklasse

Ein kraftvoller Appell an Solidarität und Hoffnung.

Ein Gruß der Arbeiterklasse der Türkei!
Möge der Friede Wurzeln schlagen wie ein alter Baum.
In jedem Faden der Arbeit soll die Zukunft reifen,
denn hellere Tage liegen in euren Händen.

Tage der Gerechtigkeit, in denen die Stärke zählt:
Niemand soll am Tag geschunden, in der Nacht hungrig sein.
Tage voll Brot, Rosen und Freiheit –
für die, die die Welt erschaffen.

Ihr, die ihr auf den Plätzen steht,
mit Träumen von Erde, Bildung und gutem Werk –
Eure Stimme wird das Schicksal wenden.

Unsere Klasse tritt der Dunkelheit entgegen –
dem Sultanat des Geldes und der Furcht.
Steht aufrecht! Lasst die Freiheit leuchten.

Ein Gruß an euch, Arbeiterinnen und Arbeiter –
auf dass eure Kraft nie wankt,
für ein helles Morgen und ein würdiges Heute.

Künstlerische Darstellung der Arbeiterklasse im Stil von Nazım Hikmet

4. Märtyrer (Kuvâyi Milliye)

Eine Hommage an die Gefallenen des türkischen Befreiungskrieges.

Märtyrer, ihr Stolzen unter der Erde –
es ist Zeit, euch noch einmal zu erheben:
Von Sakarya bis İnönü,
über die Ebenen von Afyon bis Dumlupınar.

Ihr fielt gefesselt, doch euer Geist brach die Ketten.
Eure Wurzeln trinken das Blut der Geschichte –
wir verneigen uns vor eurem Opfer.

Dort, wo ihr ruht, prüft uns das Schicksal erneut.
Kommt, weckt uns aus dem Schlaf!
Wir dürfen nicht vergessen, was ihr gabt.

Erfüllt das Versprechen der Freiheit,
schüttelt die Verzagtheit von unseren Schultern.
Märtyrer, Name unserer Würde –
jetzt ist der Augenblick des Erwachens.

5. Deine Augen (Gözlerin)

Nazım Hikmet schrieb einige der zärtlichsten Liebesgedichte der Weltliteratur, oft aus der Ferne des Gefängnisses.

Deine Augen – o deine Augen – strahlen,
ob im Kerker oder im Krankenzimmer, immer Sonne.
Sie leuchten frei wie das Ende des Mais
am Ufer von Antalya.

Deine Augen haben geweint, standen nackt im Wind,
tief und rein wie der Blick eines Kindes,
und doch niemals ohne das Licht der Hoffnung.

Deine Augen – wissend und doch voller Leben –
sehen das Leid und schenken trotzdem Helle.
Wie die Kastanien aus Bursa im Herbstregen,
wie der sanfte Wind des Sommers über den Hügeln.

In deinen Augen, meine Rose,
sehe ich die Verheißung einer Welt,
in der Menschen als Brüder gehen.

Lesen Sie auch mehr über die Wurzeln der türkischen Poesie: Rumi: Die zeitlose Weisheit eines türkischen Sufi-Mystikers.

Illustration zu Nazım Hikmets Liebesgedicht Deine Augen

6. Die Sehnsucht (Hasret)

Ein Jahrhundert ist vergangen, seit ich dein Gesicht sah.
Umschlinge mich – lass keinen Raum zwischen uns!
Die Zeit steht nicht still in deiner Abwesenheit.

Hundert Jahre wartet die Stadt auf meine Rückkehr.
Auf demselben Ast tanzten unsere Schicksale,
vom gleichen Zweig brachen wir auf.

Hundert Jahre trennen uns –
und doch renne ich in der Dämmerung,
durch die langen Jahre,
zurück dorthin, wo ich hingehöre: zu dir.

Ähnlich wie Halide Edip Adıvar in ihren Romanen, verarbeitet auch Hikmet hier den Schmerz der Trennung und die Liebe zur Heimat.

7. Meine Geliebte

Geliebte, wenn Falschheit meine Lippen berührt,
soll meine Zunge brechen,
dass ich nie „Ich liebe dich” sage in Lüge.

Denn die Wahrheit ist der Boden, auf dem wir stehen.
Würde ich Täuschung schreiben mit meiner Hand,
so möge sie verdorren,
denn nur die Wahrheit in der Umarmung heilt.

Und sollten meine Augen dich ansehen und lügen,
mögen sie ihren Glanz verlieren.
Denn der ehrliche Blick ist die reinste Farbe der Liebe.

Visualisierung eines Liebesgedichts von Nazım Hikmet

8. Vaterlandsverräter (Vatan Haini)

Eine bittere Satire als Antwort auf die Anschuldigungen der damaligen Presse und Politik.

Die Schlagzeilen schreien: „Hikmets Verrat!”
Ein Admiral lächelt auf dem Foto,
neben ihm amerikanische Dollars, so groß wie das Land.

Sie nennen mich Verräter, weil ich nicht diene.
Doch Hikmet antwortet:

„Ja, ich bin ein Vaterlandsverräter –
wenn Vaterland bedeutet, eure Kassen zu füllen.
Wenn ‚Heimat’ bedeutet, in den Fabriken unser Blut zu trinken,
wenn es bedeutet, den Boden an fremde Stützpunkte zu verkaufen,
dann trage ich meinen Verrat wie eine Fahne.”

Ist Heimat nur Profit, Scheckheft und Polizei?
Ist der Preis des Patriotismus der Hunger des Volkes?
Wenn Heimat bedeutet, vor Kälte zu zittern und im Sommer an Fieber zu leiden,
dann bin ich der Verräter.

Schreibt es in drei Spalten, schwarz auf weiß:
Nazım Hikmet ist und bleibt ein Vaterlandsverräter.

Diese kritische Haltung erinnert an die Umbrüche, die auch die Gründung der Republik unter Mustafa Kemal Atatürk begleiteten, wenngleich Hikmet später in Konflikt mit dem Staat geriet.

9. Wenn du eine Wolke wärst (Bulut Mu Olsam)

Über dem Meer leuchtet eine Wolke,
auf den Wellen schaukelt ein Schiff mit silbernem Spiegel.
Darin ein Fisch aus Gold,
ruhend im dunkelblauen Moos.

Am Ufer steht ein Mann und denkt:
Wäre ich lieber die Wolke?
Oder das Schiff, das reist?

Wäre ich der Fisch, frei im Wasser?
Oder das Moos, das im Meer atmet?
Nein, keines davon allein.

Ich will das Meer sein, mein Sohn –
mit seinen Wolken, Schiffen und Fischen,
ungeteilt, riesig und alles umfassend.

Illustration zu ‚Wenn du eine Wolke bist' – Meerlandschaft

10. Blauer Hafen (Mavi Liman)

Ein Abschiedsgedicht voller Melancholie.

Ich bin erschöpft, mein Kapitän – halt an.
Lass einen anderen das Logbuch führen.
Ich sehe den Dom, ich sehe das blaue Tor –
aber bring mich nicht an diesen Ort zurück,
denn ich kann nicht mehr an Land gehen.


Fazit: Nazım Hikmet verbindet zärtliche Liebesbilder mit einem scharfen sozialen Blick und einer unerschrockenen Sehnsucht nach Freiheit. Seine Verse tragen die Last des Exils, öffnen aber zugleich weite, helle Horizonte. Ob er über die Natur schreibt, wie über den majestätischen Berg Ararat, oder über menschliches Leid – seine Stimme bleibt unvergessen.

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