Die türkische Verfassung: Geschichte, Prinzipien & Reformen

Türkische Verfassung

Die türkische Verfassung (Türkiye Cumhuriyeti Anayasası) ist das fundamentale Rechtsdokument, das die staatliche Ordnung der Republik Türkei, die Regierungsform sowie die Grundrechte und Pflichten ihrer Bürger definiert. Sie bildet den rechtlichen Rahmen für das gesamte politische und gesellschaftliche Leben des Landes.

Als höchstes Gesetz der Nation regelt sie in ihrem aktuellen Text, der auf der Verfassung von 1982 basiert, das Zusammenspiel der drei Gewalten: Exekutive, Legislative und Judikative. Seit ihrem Inkrafttreten wurde sie vielfach revidiert, um sie demokratischen Standards anzunähern. Die wohl tiefgreifendste Änderung erfolgte durch das Referendum von 2017, das den Übergang von einem parlamentarischen System zu einem Präsidialsystem markierte.

Türkisches Gesetzbuch und Justizhammer symbolisieren die Verfassung

Überblick: Die Verfassung der Türkei

Die derzeit gültige Verfassung wurde nach dem Militärputsch vom 12. September 1980 ausgearbeitet und durch eine Volksabstimmung am 7. November 1982 angenommen. Sie ersetzte die liberalere Verfassung von 1961.

Obwohl der ursprüngliche Text von 1982 stark durch die Sicherheitsinteressen des Militärs geprägt war, haben zahlreiche Reformpakete – insbesondere im Zuge der EU-Beitrittsgespräche in den 2000er Jahren – den Text grundlegend liberalisiert. Heute garantiert die Verfassung weitreichende bürgerliche Freiheiten, wenngleich ihre Anwendung in der Praxis oft Gegenstand politischer Diskussionen ist, wie etwa bei den türkischen Wahlergebnissen und deren juristischer Nachbereitung zu beobachten ist.

Ein besonderes Merkmal der türkischen Verfassung ist der harte Kern der ersten drei Artikel. Diese definieren die Staatsform, die Amtssprache, die Flagge, die Nationalhymne und die Hauptstadt und stehen unter dem besonderen Schutz von Artikel 4: Sie sind unabänderlich und dürfen nicht einmal zur Änderung vorgeschlagen werden.

Geschichte der türkischen Verfassung

Die Verfassungsgeschichte der Türkei spiegelt den turbulenten Weg des Landes von einem Imperium zu einer modernen Republik wider. Jede Verfassung markiert eine neue Epoche in der staatlichen Entwicklung.

Die Verfassung von 1921: Das Grundgesetz der Kriegszeit

Die erste Verfassung der neuen türkischen Regierung, bekannt als „Teşkilât-ı Esasiye Kanunu” (Gesetz über die Grundorganisation), wurde am 20. Januar 1921 verabschiedet. Sie entstand mitten im Unabhängigkeitskrieg, als das Osmanische Reich faktisch zerfallen, aber noch nicht offiziell abgeschafft war.

Dieses Dokument war kurz, pragmatisch und revolutionär. Es bestand aus nur 23 Artikeln und verankerte erstmals das Prinzip der Volkssouveränität: „Die Souveränität liegt bedingungslos und uneingeschränkt bei der Nation.” Damit wurde die Legitimation der Macht vom Sultan auf das Volk und dessen Vertretung, die Große Nationalversammlung, übertragen.

Die Verfassung von 1924: Die Gründung der Republik

Nach dem Sieg im Unabhängigkeitskrieg und der Ausrufung der Republik (1923) wurde 1924 eine neue, umfassendere Verfassung verabschiedet. Sie begleitete die radikalen Reformen der frühen Republikjahre unter Mustafa Kemal Atatürk.

Wichtige Meilensteine unter dieser Verfassung waren:

  • 1928: Die Streichung der Klausel, die den Islam als Staatsreligion definierte.
  • 1930/1934: Einführung des Frauenwahlrechts – zunächst auf kommunaler Ebene (1930), dann landesweit (1934). Damit war die Türkei vielen europäischen Staaten voraus.
  • 1937: Die formelle Aufnahme des Laizismus (Säkularismus) und der anderen republikanischen Grundprinzipien in den Verfassungstext.

In dieser Zeit wirkten auch intellektuelle Pionierinnen wie Halide Edip Adıvar, die durch ihr politisches und literarisches Schaffen die gesellschaftliche Modernisierung mitprägten.

Die Verfassung von 1961: Freiheit und Kontrolle

Nach dem Militärputsch von 1960 wurde die Verfassung von 1924 aufgehoben. Die neue Verfassung von 1961, die per Referendum angenommen wurde, gilt als die liberalste in der türkischen Geschichte. Sie führte Gewaltenteilung und richterliche Unabhängigkeit stärker ein als je zuvor.

Zu den wichtigsten Neuerungen gehörten:

  • Gründung des Verfassungsgerichts zur Kontrolle der Gesetzgebung.
  • Einführung eines Zweikammersystems (Nationalversammlung und Senat).
  • Stärkung der Grundrechte, der Pressefreiheit und der Gewerkschaftsrechte.
  • Autonomie für Universitäten und den Rundfunk.

Doch die politischen Spannungen nahmen in den 1970er Jahren zu, was schließlich zum nächsten militärischen Eingriff führte. Die Rolle der Sicherheitskräfte in dieser Zeit ist eng mit der historischen Entwicklung der Staatsorgane verknüpft, wie ein Blick auf die Geschichte der türkischen Gendarmerie zeigt.

Die Verfassung von 1982 und das Präsidialsystem

Die aktuelle Verfassung entstand nach dem Putsch von 1980. Sie kehrte zu einem Einkammersystem zurück und legte zunächst großen Wert auf starke Exekutivbefugnisse und die Einschränkung politischer Betätigung, um die staatliche Ordnung zu sichern.

Seit den 1990er Jahren hat sich der Charakter dieses Textes jedoch gewandelt. Die umfassendste Änderung brachte die Verfassungsreform von 2017. Durch sie wechselte die Türkei von einem parlamentarischen zu einem Präsidialsystem:

  • Das Amt des Ministerpräsidenten wurde abgeschafft.
  • Der Staatspräsident wurde zum alleinigen Inhaber der Exekutivgewalt (Staats- und Regierungschef).
  • Die Anzahl der Abgeordneten im Parlament wurde auf 600 erhöht.
  • Der Präsident erhielt die Befugnis, per Dekret zu regieren und Parteimitglied zu sein.

Der Inhalt der türkischen Verfassung

Die unveränderlichen Grundprinzipien

Die ersten vier Artikel bilden das ideologische Fundament der Republik. Sie legen fest, dass der türkische Staat eine Republik ist (Art. 1) und definieren seine Charakteristika als „demokratischer, laizistischer und sozialer Rechtsstaat” (Art. 2). Artikel 3 bestimmt die nationale Einheit, die türkische Sprache, die Fahne, die Hymne (İstiklâl Marşı) und die Hauptstadt Ankara. Artikel 4 schützt diese Bestimmungen vor jeglicher Änderung.

Grundrechte und Pflichten

Der zweite Teil der Verfassung widmet sich den Grundrechten. Hierzu zählen die persönliche Freiheit, Privatsphäre, Meinungs- und Pressefreiheit sowie soziale Rechte wie das Recht auf Bildung und Arbeit. Die Verfassung betont jedoch auch, dass diese Rechte zum Schutz der nationalen Sicherheit oder der öffentlichen Ordnung eingeschränkt werden können – ein Punkt, der in der juristischen Praxis oft abgewogen werden muss.

Für ein tieferes Verständnis der kulturellen und historischen Wurzeln, die das türkische Staatsverständnis prägen, lohnt sich auch ein Blick auf das historische Bildungssystem, wie es in der osmanischen Schule praktiziert wurde.

Das türkische Verfassungsgericht

Gebäude des türkischen Verfassungsgerichts in Ankara

Das Verfassungsgericht (Anayasa Mahkemesi) mit Sitz in Ankara ist der Hüter der Verfassung. Es besteht aus 15 Mitgliedern und hat zwei zentrale Funktionen:

  1. Normenkontrolle: Es prüft Gesetze und Präsidialdekrete auf ihre Verfassungsmäßigkeit.
  2. Individualbeschwerde: Seit 2012 können sich Bürger direkt an das Verfassungsgericht wenden, wenn sie ihre Grundrechte durch die öffentliche Gewalt verletzt sehen und den ordentlichen Rechtsweg ausgeschöpft haben.

Zusätzlich fungiert das Gericht als Oberster Staatsgerichtshof (Yüce Divan), um hochrangige Staatsvertreter wie den Präsidenten oder Minister bei Amtsvergehen anzuklagen.

Wie wird die türkische Verfassung geändert?

Eine Verfassungsänderung ist ein komplexer Prozess, der breite Mehrheiten erfordert. Ein Vorschlag muss von mindestens einem Drittel der 600 Parlamentsabgeordneten (200 Stimmen) eingebracht werden. Für die Annahme gibt es zwei Hürden:

  • 360 bis 399 Stimmen (3/5-Mehrheit): Der Vorschlag wird angenommen, muss aber zwingend in einem Volksreferendum bestätigt werden.
  • Ab 400 Stimmen (2/3-Mehrheit): Die Änderung kann direkt vom Präsidenten in Kraft gesetzt werden. Der Präsident hat jedoch auch hier das Recht, freiwillig ein Referendum anzuberaumen.

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