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Sultan Abdülaziz gilt als einer der bemerkenswertesten Herrscher des späten Osmanischen Reiches. Er ging als der erste Sultan in die Geschichte ein, der diplomatische Staatsbesuche in Europa und Ägypten unternahm und damit die jahrhundertealte Tradition der osmanischen Abkapselung durchbrach.
Sein Leben endete jedoch tragisch: Wenige Tage nach seiner Absetzung wurde er tot im Feriye-Palast aufgefunden. Sein mysteriöses Ableben löste langanhaltende Kontroversen aus, die bis in die Regierungszeit von Sultan Abdülhamid II. reichten und bis heute Gegenstand historischer Debatten sind.

Abstammung und Familie von Sultan Abdülaziz
Sultan Abdülaziz entstammte der prestigeträchtigen osmanischen Dynastie, deren Wurzeln bis auf Osman Gazi und dessen Vater Ertuğrul Gazi zurückreichen. Seine direkte Abstammungslinie verbindet ihn mit den bedeutendsten Herrschern des Reiches:
Sultan Abdülaziz war der Sohn von Mahmud II., Enkel von Abdülhamid I. und führte seine Linie über Ahmed III., Mehmed IV., Ibrahim I. und Ahmed I. zurück bis hin zu Süleyman dem Prächtigen und Mehmed dem Eroberer.
Das Privatleben des Sultans war geprägt von seinem Harem. Nach historischen Aufzeichnungen hatte Sultan Abdülaziz fünf Hauptgemahlinnen (Kadın Efendiler) und mehrere Kinder:
- Dürrünev Kadın: Mutter von Şehzade Yusuf İzzeddin und Saliha Sultan.
- Edadil Kadın: Mutter von Şehzade Mahmud Celaleddin und Emine Sultan (die jung verstarb).
- Hayranidil Kadın: Mutter des späteren Kalifen Abdülmecid II. und Nazime Sultan.
- Neşerek (Nesrin) Kadın: Mutter von Şehzade Mehmed Şevket und Emine Sultan.
- Gevheri Kadın: Mutter von Esma Sultan.
Das frühe Leben
Sultan Abdülaziz wurde am 8. Februar 1830 in Istanbul als Sohn von Sultan Mahmud II. und Pertevniyal Sultan geboren. Er erhielt eine sorgfältige Erziehung, die sowohl traditionelle als auch moderne Werte umfasste.
Neben seiner religiösen Bildung – er soll jeden Morgen den Koran rezitiert haben – war der Sultan auch künstlerisch begabt. Er komponierte Musikstücke im westlichen und osmanischen Stil und war ein talentierter Kalligraph.

Die Regierungszeit von Sultan Abdülaziz (1861–1876)
Abdülaziz bestieg den Thron in einer turbulenten Zeit. Das Osmanische Reich sah sich mit zahlreichen internen Aufständen konfrontiert, denen der Sultan entschlossen entgegentrat. Zu den bedeutendsten Konflikten zählten:
- Der Aufstand in Montenegro
- Die Unruhen in Serbien
- Der Aufstand auf Kreta
Interne Reformen und Modernisierung
Trotz der politischen Unruhen trieb Sultan Abdülaziz die Modernisierung des Reiches voran. Seine Reformen betrafen das Rechtssystem, die Bildung und die Infrastruktur.
Das Mecelle: Ein Meilenstein des islamischen Rechts
Eines der wichtigsten Vermächtnisse dieser Ära war der Beginn der Kodifizierung des islamischen Zivilrechts im sogenannten Mecelle-i Ahkam-ı Adliye (kurz Mecelle). Unter der Leitung von Ahmed Cevdet Pascha wurde ab 1869 ein Gesetzbuch erstellt, das auf der hanafitischen Rechtsschule basierte, aber modern strukturiert war.
Das Mecelle regelte zivilrechtliche Angelegenheiten wie Kaufverträge, Miete und Bürgschaften. Es diente später als Grundlage für die Zivilgesetzgebung in vielen Nachfolgestaaten des Osmanischen Reiches, darunter Syrien, Jordanien und der Irak.
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Beziehungen zu Ägypten und Tunesien
Außenpolitisch bemühte sich Abdülaziz um eine Stabilisierung der Beziehungen zu den halbautonomen Provinzen. Er gewährte dem ägyptischen Gouverneur Ismail Pascha den Titel “Khedive” und erweiterte dessen Befugnisse erheblich. Im Gegenzug erhielt das Reich höhere Tributzahlungen.
Auch in Tunesien stärkte der Sultan die Bindungen zum dortigen Bey, um den wachsenden französischen Einfluss in Nordafrika einzudämmen. Durch die Bestätigung der Autonomie Tunesiens versuchte er, das Gebiet formell als Teil des Osmanischen Reiches zu sichern.

Wirtschaft und Bildung
Unter Abdülaziz hielt der technische Fortschritt Einzug in Istanbul. Das Schienennetz wurde ausgebaut, und der berühmte Bahnhof Sirkeci begann Gestalt anzunehmen. Zudem führte das Reich 1863 die ersten Briefmarken mit der Tughra des Sultans ein.
Im Bildungsbereich war die Gründung des Galatasaray-Gymnasiums (Mekteb-i Sultani) im Jahr 1868 ein bedeutender Schritt. Diese Schule bot Unterricht nach westlichem Vorbild in französischer und türkischer Sprache an und stand Schülern aller Religionen offen.
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Die osmanische Flotte: Zur drittstärksten Seemacht
Sultan Abdülaziz hatte eine große Leidenschaft für die Marine. Er investierte massiv in die Modernisierung der Flotte. Durch den Kauf moderner Panzerschiffe aus Europa und den Ausbau der heimischen Werften gelang es ihm, die osmanische Marine zur drittgrößten der Welt zu machen – gleich hinter Großbritannien und Frankreich.
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Finanzkrise und Staatsbankrott
Die Kehrseite der ambitionierten Modernisierung und der hohen Militärausgaben war eine katastrophale Verschuldung. Um Kriege, die Flotte und Paläste zu finanzieren, nahm das Reich immer neue Kredite bei europäischen Banken auf. Das Misstrauen der Gläubiger war so groß, dass der Staat oft nur etwa 57% des Nennwerts der Anleihen tatsächlich ausbezahlt bekam, während hohe Zinsen und Gebühren sofort abgezogen wurden.
Im Jahr 1875 spitzte sich die Lage zu: Über die Hälfte der Staatseinnahmen musste allein für den Schuldendienst aufgewendet werden. Der Staat musste schließlich den faktischen Staatsbankrott erklären (Ramadan-Dekret) und die Zinszahlungen halbieren, was das Vertrauen der europäischen Märkte endgültig zerstörte.

Die historischen Auslandsreisen
Der Besuch in Ägypten (1863)
Sultan Abdülaziz war der erste osmanische Herrscher, der seine Hauptstadt für friedliche Zwecke verließ. Auf Einladung von Ismail Pascha reiste er 1863 nach Ägypten. Er nutzte dafür die königliche Yacht Sultaniye (ursprünglich als Feyz-i Cihat bekannt).
In Ägypten zeigte er sich beeindruckt von der modernen Entwicklung, insbesondere vom dortigen Eisenbahnnetz, das zu jener Zeit weiter fortgeschritten war als das in Istanbul. Der Sultan besuchte Alexandria und Kairo und besichtigte historische Stätten wie die Pyramiden von Gizeh.

Die Europareise (1867)
Noch bedeutender war seine Reise nach Europa im Sommer 1867. Auf Einladung von Kaiser Napoleon III. besuchte er die Weltausstellung in Paris. Begleitet wurde er von seinen Neffen, dem Kronprinzen Murad (später Murad V.) und Abdülhamid (später Abdülhamid II.).
Die Reiseroute war ein diplomatischer Triumphzug:
- Frankreich: Ankunft in Toulon, Empfang in Paris durch Napoleon III.
- Großbritannien: Weiterreise nach London, wo er von Königin Victoria im Buckingham Palace empfangen wurde und eine Flottenparade der Royal Navy abnahm.
- Belgien & Preußen: Treffen mit König Leopold II. in Brüssel und König Wilhelm I. in Koblenz.
- Österreich-Ungarn: Empfang durch Kaiser Franz Joseph in Wien.
Diese Reise sollte das Image des Osmanischen Reiches in Europa verbessern und neue Kredite sichern, zeigte aber auch die Offenheit des Sultans gegenüber westlicher Technologie und Kultur.


Der Sturz des Sultans
Im Jahr 1876 eskalierte die Unzufriedenheit im Reich. Religiöse Studenten (Softas) demonstrierten in Istanbul und forderten die Entlassung des Großwesirs Mahmud Nedim Pascha. Hinter den Kulissen planten führende Reformer, darunter Midhat Pascha und der Kriegsminister Hüseyin Avni Pascha, einen Staatsstreich.
In der Nacht zum 30. Mai 1876 wurde der Dolmabahçe-Palast umstellt. Sultan Abdülaziz wurde für abgesetzt erklärt und durch seinen Neffen Murad V. ersetzt. Abdülaziz wurde zunächst in den Topkapı-Palast und später auf eigenen Wunsch in den Feriye-Palast verlegt.

Der mysteriöse Tod: Selbstmord oder Mord?
Am 4. Juni 1876, nur wenige Tage nach seiner Absetzung, wurde der Ex-Sultan tot in seinem Zimmer aufgefunden. Seine Handgelenke waren aufgeschnitten, und er war verblutet.
Eine hastig einberufene Untersuchungskommission unter der Aufsicht von Hüseyin Avni Pascha erklärte den Tod offiziell zum Selbstmord. Es hieß, der Sultan habe sich aus Verzweiflung mit einer Schere, die er zum Bartschneiden verlangt hatte, das Leben genommen.
Diese Version wurde jedoch schon bald angezweifelt. Viele glaubten an einen politischen Mord, inszeniert von den Drahtziehern des Putsches, die eine Rückkehr des Sultans fürchteten. Jahre später, unter der Herrschaft von Sultan Abdülhamid II., wurde der Fall im sogenannten “Yıldız-Prozess” (1881) neu aufgerollt. Das Gericht verurteilte Midhat Pascha und andere Verschwörer wegen Mordes an Abdülaziz, wenngleich Historiker bis heute darüber streiten, ob dieses Urteil der Wahrheit entsprach oder ein politisches Manöver Abdülhamids war, um seine Gegner auszuschalten.







