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Politik in der Türkei ist mehr als nur ein Kreuz auf dem Stimmzettel – sie ist der Puls der Wirtschaft und des täglichen Lebens.
Für Expats, Investoren und Beobachter ist das Verständnis des türkischen Wahlsystems keine trockene Theorie, sondern überlebenswichtiges Wissen. Warum? Weil Wahlergebnisse in der Türkei oft direkte Auswirkungen auf den Wechselkurs, Mietpreise und Aufenthaltsgenehmigungen haben. In diesem Artikel zerlegen wir das komplexe System in verständliche Häppchen und klären ein für alle Mal, warum Ihre „Mavi Kart” am Wahltag leider im Portemonnaie bleiben muss.

Das System im Überblick: Parlament & Präsident
Die Türkei operiert unter einem präsidentschaftlichen Regierungssystem. Das bedeutet, die Machtzentrale liegt beim Präsidenten, nicht mehr beim Premierminister (ein Amt, das 2018 abgeschafft wurde). Das Parlament, die Große Nationalversammlung der Türkei (TBMM), besteht aus 600 Abgeordneten.
Wahlen finden regulär alle fünf Jahre statt. Die nächsten regulären Präsidentschafts- und Parlamentswahlen sind für Mai 2028 angesetzt, sofern keine vorgezogenen Neuwahlen ausgerufen werden.
Das Wahlsystem basiert auf dem Verhältniswahlrecht, allerdings mit einer entscheidenden Hürde:
- Die 7%-Sperrklausel: Seit 2022 wurde die nationale Hürde von 10% auf 7% gesenkt. Eine Partei muss landesweit mindestens 7% der Stimmen erhalten, um ins Parlament einzuziehen.
- Wahlbündnisse (Ittifak): Hier wird es taktisch. Kleine Parteien können diese 7%-Hürde umgehen, indem sie ein Bündnis mit großen Parteien eingehen. Wenn das Bündnis insgesamt über 7% kommt, ziehen auch die kleinen Partner ins Parlament ein.
Die Präsidentschaftswahl: Das 50+1 Prinzip
Der Präsident wird direkt vom Volk gewählt. Hier gilt das einfache Mehrheitsprinzip, aber mit einer harten Bedingung:
Ein Kandidat gewinnt nur, wenn er im ersten Wahlgang mehr als 50% der gültigen Stimmen (50% + 1 Stimme) erhält. Schafft das niemand – was in einer polarisierten Landschaft oft vorkommt –, gehen die beiden stärksten Kandidaten zwei Wochen später in eine Stichwahl.
Wer darf Präsident werden?
Die Hürden für das höchste Amt im Staat sind hoch:
- Mindestens 40 Jahre alt.
- Abgeschlossenes Hochschulstudium (Universität).
- Türkische Staatsbürgerschaft.
Ein Präsident darf maximal zwei Amtszeiten dienen. Es gibt jedoch ein verfassungsrechtliches Schlupfloch: Beschließt das Parlament während der zweiten Amtszeit vorgezogene Neuwahlen, darf der amtierende Präsident erneut antreten.
Die Parlamentswahl: Wer macht die Gesetze?
Anders als beim Präsidenten sind die Anforderungen für Abgeordnete etwas lockerer, um eine breitere Repräsentation zu gewährleisten. Die Türkei ist in 87 Wahlbezirke unterteilt (Istanbul hat aufgrund seiner Größe allein drei Bezirke).
Voraussetzungen für Abgeordnete
- Mindestalter: 18 Jahre.
- Bildung: Mindestens Grundschulabschluss (kein Uni-Abschluss nötig).
- Abgeleisteter oder befreiter Wehrdienst (für Männer).
- Keine Vorstrafen wegen schwerer Verbrechen.
Wichtig für Expats: Viele Beamte und öffentliche Angestellte müssen ihren Job kündigen, bevor sie überhaupt kandidieren dürfen. Dazu gehören Richter, Staatsanwälte, Militärs und sogar Hochschuldozenten an staatlichen Unis. Das soll die Neutralität des Staates während des Wahlkampfs sichern.
Kommunalwahlen: Wo der Alltag entschieden wird
Während Ankara die große Politik macht, entscheidet Ihr lokaler Bürgermeister (Belediye Başkanı), ob die Straße vor Ihrem Haus repariert wird. Kommunalwahlen finden ebenfalls alle fünf Jahre statt (zuletzt 2024, nächste Runde 2029).

Hier wählen Sie nicht nur den Bürgermeister, sondern auch den Muhtar (Ortsvorsteher). Der Muhtar ist oft der wichtigste Ansprechpartner für lokale bürokratische Angelegenheiten. Ein spannendes Detail: Muhtars gehören keinen Parteien an; es ist eine reine Persönlichkeitswahl.
Wer darf wählen? (Der Mavi-Kart-Check)
Hier herrscht oft Verwirrung unter Deutsch-Türken. Das Wahlrecht ist strikt an die türkische Staatsbürgerschaft gebunden.
Dürfen Mavi-Kart-Inhaber wählen?
Nein. Die „Blaue Karte” (Mavi Kart) gibt ehemaligen türkischen Staatsbürgern fast alle Rechte (Erbrecht, Arbeitsrecht, Immobilienkauf), aber sie gewährt kein aktives oder passives Wahlrecht. Wer seinen türkischen Pass abgegeben hat (z. B. für die deutsche Einbürgerung), kann in der Türkei nicht mehr wählen.
Für türkische Staatsbürger im Ausland gilt: Sie können in Konsulaten (z. B. in Berlin oder Köln) oder an Grenzübergängen wählen. Das Mobilisierungspotenzial der Auslandstürken ist riesig und oft wahlentscheidend.
Der Wahltag: Wie läuft es ab?
Die Wahlbeteiligung in der Türkei ist im internationalen Vergleich extrem hoch (oft über 85%). Das Wählen ist tief in der politischen Kultur verwurzelt.
- Wahlort: Meistens Schulen. Ihre genaue Urne erfahren Sie über das e-Devlet-Portal.
- Identifikation: Nur mit gültigem türkischem Personalausweis (Kimlik) oder Reisepass.
- Alkoholverbot: Am Wahltag gilt oft ein striktes Verbot für den Ausschank von Alkohol in öffentlichen Einrichtungen bis zum Ende der Wahlzeit.
Sicherheit und Kontrolle: Wer zählt die Stimmen?
Die oberste Autorität hat der Hohe Wahlrat (YSK). Er besteht aus hochrangigen Richtern. Seine Entscheidungen sind endgültig und können vor keinem anderen Gericht angefochten werden.
Der „Practitioner”-Tipp: Vertrauen ist gut, Kontrolle ist besser. Nach Schließung der Wahllokale (meist 17:00 Uhr) werden die Stimmen öffentlich vor Ort ausgezählt. Jeder Bürger hat das Recht, bei der Auszählung in seinem Wahllokal zuzuschauen. Die Ergebnisse („Tutanak”) werden noch im Klassenzimmer unterschrieben und oft per Smartphone-Foto von Parteibeobachtern dokumentiert, um Manipulationen beim Transport zu verhindern.
Für weitere Einblicke in das Leben und die Bürokratie in der Türkei empfehlen wir Ihnen unseren Artikel zur Legalisierung ausländischer Dokumente oder informieren Sie sich über die türkischen Feiertage, die oft mit Wahltagen korrelieren.







