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Eskişehir ist ein Paradoxon. Wer heute durch die belebten Straßen am Porsuk-Fluss spaziert, sieht eine europäisch anmutende Studentenstadt voller Cafés und Leben. Doch der Name verrät das wahre Erbe: „Alte Stadt”. Diese Diskrepanz zwischen junger Energie und uralter Geschichte ist kein Zufall – sie ist das Ergebnis einer 4.000 Jahre alten Überlebensgeschichte an einem der wichtigsten Knotenpunkte Anatoliens.
Die Geschichte von Eskişehir ist nicht nur eine chronologische Abfolge von Herrschern. Sie ist die Geschichte einer Stadt, die immer wieder zerstört wurde und sich immer wieder neu erfand – von den Phrygiern über die Osmanen bis hin zur modernen Republik.

Die antiken Wurzeln: Dorylaeum (Vor Christus)
Lange bevor es Eskişehir hieß, war dieser Ort als Dorylaeum bekannt. Historiker datieren die ersten menschlichen Siedlungen in der Region auf etwa 4.000 Jahre zurück, doch die erste bedeutende Stadtstruktur formte sich unter den Phrygiern im 8. Jahrhundert v. Chr. (ca. 700 v. Chr.).
Die strategische Lage war damals schon entscheidend. Die Stadt lag an wichtigen Handelsrouten und war bekannt für ihre heißen Quellen. Archäologische Funde in der Region Şarhöyük belegen, dass auch die Hethiter hier bereits um 1460 v. Chr. präsent waren. Dorylaeum war kein ruhiges Dorf, sondern ein Handelszentrum, das später auch von den Römern und Byzantinern als militärischer und logistischer Stützpunkt genutzt wurde.

Sultanönü: Der Übergang zur türkischen Herrschaft
Mit der Ankunft der Seldschuken im späten 11. Jahrhundert (ca. 1074 n. Chr.) änderte sich das Schicksal der Region dramatisch. Die Stadt wurde unter dem Namen Sultanönü bekannt. Sie war nicht nur ein Verwaltungszentrum, sondern ein kultureller Schmelztiegel.
In dieser Zeit entwickelte sich die spirituelle Identität der Region. Der berühmte Volksdichter Yunus Emre, dessen Grabmal sich im nahegelegenen Mihalıçcık befindet, prägte hier die türkische Sprache und Mystik. Seine Gedichte über Humanismus und Liebe sind bis heute ein zentraler Bestandteil der anatolischen Kultur.

Die Wiege des Osmanischen Reiches
Eskişehir spielte eine Schlüsselrolle bei der Gründung des Osmanischen Reiches, ein Fakt, der oft übersehen wird. Im Jahr 1288 eroberte Osman Gazi, der Begründer der Dynastie, die byzantinische Festung Karacahisar südwestlich der heutigen Stadt. Dies war einer der ersten bedeutenden militärischen Siege der jungen Osmanen und festigte ihre Macht in Anatolien.
Interessant ist hier der Kontrast: Während Osman Gazi hier die Grundlagen für ein Weltreich legte, das später Orte wie das osmanische Jerusalem verwalten würde, blieb Eskişehir selbst lange Zeit eine eher ruhige Provinzstadt. Erst im 19. Jahrhundert sollte sich das durch eine technische Revolution ändern.

Der Wendepunkt: Die Eisenbahn und die Moderne
Die eigentliche Geburt des modernen Eskişehir geschah nicht auf dem Schlachtfeld, sondern auf Schienen. Ende des 19. Jahrhunderts wurde die Stadt zu einem zentralen Knotenpunkt der Anatolischen Eisenbahn (Teil der berühmten Berlin-Baghdad-Bahn). Dies verwandelte die Agrarstadt in ein logistisches Herzstück.
Die Eröffnung der großen Reparaturwerkstätten (heute Tülomsaş) brachte Industrie, Handel und Einwanderer in die Stadt. Nach dem Osmanisch-Russischen Krieg (1877–1878) strömten zudem viele Flüchtlinge vom Balkan und aus dem Kaukasus hierher, was die demografische Struktur der Stadt nachhaltig prägte. Eskişehir wurde kosmopolitisch und industriell.

Zerstörung und Wiedergeburt: Der Unabhängigkeitskrieg
Der türkische Befreiungskrieg (1919–1923) markiert das dunkelste Kapitel der Stadtgeschichte, aber auch ihren heldenhaftesten Moment. Aufgrund ihrer strategischen Eisenbahnlage war die Stadt hart umkämpft. Im Juli 1921 fiel Eskişehir unter griechische Besatzung.
Die Befreiung erfolgte am 2. September 1922 durch die Armee unter Mustafa Kemal Atatürk, doch der Preis war hoch. Beim Rückzug hinterließen die Besatzer eine Spur der Verwüstung: Tausende Gebäude wurden niedergebrannt, und die Infrastruktur lag in Trümmern. Historische Berichte sprechen von über 10.000 zerstörten Häusern und enormen Verlusten in der Zivilbevölkerung. Die “Altstadt” musste fast vollständig neu aufgebaut werden.

Eskişehir in der Republik: Die Stadt der Studenten
Mit der Ausrufung der Republik 1923 wurde Eskişehir offiziell zur Provinz und begann seinen Aufstieg zur modernen Metropole. Die Stadt nutzte ihr industrielles Erbe und ihre zentrale Lage, um sich neu zu erfinden. Heute ist sie vor allem als Universitätsstadt bekannt.
Wer heute eine Bewerbung für eine Universität in der Türkei plant, kommt an Eskişehir kaum vorbei. Mit der Anadolu-Universität und der Osmangazi-Universität beherbergt die Stadt hunderttausende Studenten, was ihr eine einzigartige, liberale Atmosphäre verleiht. Neben der Bildung ist die Stadt berühmt für ihr Handwerk, insbesondere den Meerschaum (Lületaşı), der hier seit Jahrhunderten abgebaut und zu kunstvollen Pfeifen und Schmuck verarbeitet wird.
Eskişehir hat bewiesen, dass Geschichte nicht nur in Museen lebt. Von den phrygischen Ruinen über die Schlachtfelder des Unabhängigkeitskrieges bis hin zu den modernen Hochgeschwindigkeitszügen ist die Stadt ein lebendiges Zeugnis anatolischer Widerstandskraft.








